Über Nikolai Kondratieff
Der russische Wissenschaftler Nikolai Dmitrijewitsch Kondratieff (1892-1938) gilt als der Begründer der Theorie der langen Wellen. Bei seinen Konjunkturforschungen zwischen 1919 und 1921 fand er heraus, dass es außer kurzen, bis zu drei Jahre langen und mittleren, bis zu elf Jahre dauernden Zyklen, auch lange Konjunkturwellen mit einer Dauer von 45-60 Jahren gibt. 1926 veröffentlichte er – zu dieser Zeit war er Direktor des Moskauer Instituts für Konjunkturforschung – seine Erkenntnisse im deutschsprachigen "Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik". In diesem Artikel zeigte er auf, dass die wirtschaftliche Entwicklung in den westlichen Industrieländern seit Ende des 18. Jahrhunderts durch drei große Auf- und Abschwungswellen bestimmt wurde.
Obwohl Kondratieff ein Kommunist der ersten Stunde war, setzte er sich während der stalinistischen Diktatur für die Erhaltung marktwirtschaftlicher Strukturen in der russischen Landwirtschaft ein. Das wurde ihm zum Verhängnis. 1930 wurde er wegen angeblicher antikommunistischer Agitationen verhaftet, nach Sibirien deportiert, am 17.9.1938 zum Tode verurteilt und am gleichen Tag hingerichtet. (Maier, 1993). Eine gute Übersicht von Kondratieffs Leben, Werk und Methode befindet sich bei Freeman und Louca.
In den 1970er und 1980er Jahren wurden an der Science Policy Research Unit (SPRU) der Universität Sussex (GB) unter Christopher Freeman und durch Cesare Marchetti am Internationalen Institut für Angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg, Österreich, die Methoden zum Nachweis des Kondratieffzyklus verbessert. Die neuen Verfahren berücksichtigen nicht nur makroökonomische Zeitreihen, sondern stützen sich zusätzlich auf technologische, betriebswirtschaftliche, soziale und institutionelle Daten und Trends. Durch diese Erweiterung wurde der Nachweis eines Kondratieffzyklus auf eine breitere wissenschaftliche Grundlage gestellt. Zugleich wurde deutlich, dass die Theorie der langen Wellen wesentlich bessere Ergebnisse liefert, wenn sie nicht nur als Konjunkturtheorie, sondern als Gesellschaftstheorie verstanden wird.
Nachdem sich die Theorie der langen Wellen seit den 1990er Jahren einer neuen Popularität erfreut, ist auch das Interesse an der Person Kondratieffs gestiegen. Zu seiner herausragenden Pionierleistung muss aber fairerweise angemerkt werden:
1. Kondratieff hat die Existenz langer Wellen 1925/1926 nachgewiesen, er war aber nicht der Erste. Zwei Holländer, van Gelderen 1913 und de Wolff 1921, haben vor ihm die Existenz langer Wellen aufgezeigt. Sie publizierten ihre Ergebnisse in holländischen Fachzeitschriften und blieben deshalb lange Zeit international unbekannt.
2. Kondratieff hat die Existenz langer Wellen aufgezeigt und in eine breite wissenschaftliche Öffentlichkeit gebracht. Das war der entscheidende Anstoß für die Entstehung der Theorie der langen Wellen, und das bleibt sein besonderer Verdienst. Aber man darf nicht übersehen, dass Kondratieff ein leidenschaftlicher Nationalökonom war. Die bahnbrechenden Innovationen des 18. Und 19 Jahrhunderts – Dampfmaschine, Stahl, Eisenbahn, Elektrizität, Chemie – erwähnte er mit keinem Wort. Durch seine Fixierung auf Makroökonomie ist ihm entgangen, dass es zwei unterschiedliche Arten von langen Wellen gibt: lange Wellen auf der makroökonomischen Ebene und lange Wellen auf der Innovationsebene. Darauf wird im nächsten Anhang genauer eingegangen.
3. Kondratieff hat die Existenz langer Wellen über die Analyse historischer Zeitreihen entdeckt. Seine Methode ist vergangenheitsorientiert und setzt voraus, dass der Langzyklus bereits stattgefunden hat oder zumindest einen fortgeschrittenen Stand erreicht hat. Damit lässt sich ein abgeschlossener Zyklus analysieren. Für eine Prognose ist diese Methode ungeeignet. In Anhang 3 wird eine Methode vorgestellt, mit der man bereits früh einen neuen Kondratieffzyklus voraussagen kann.
Die zentrale Bedeutung von Basisinnovationen für einen Kondratieffzyklen hat als erster Joseph Schumpeter in seinem Werk "Konjunkturzyklen" herausgestellt. Er prägte auch den Begriff „Kondratieffzyklus“ und verknüpfte so den Namen mit dem Phänomen der langen Wellen.
Kondratieff hat, unabhängig von van Gelderen und de Wolff, einen eigenen Rohbau errichtet, den andere Wissenschaftler renoviert, erweitert, stabilisiert, zum soliden Gebäude der Theorie der langen Wellen ausgebaut und damit die Wissenschaft mit einem weiteren Edelstein bereichert haben. Für seine Pionierleistung steht ihm ein Ehrenplatz in der Wissenschaft zu.