Über die Kondratieffzyklen
© Nefiodow, Leo und Nefiodow, Simone, 2014
In der Marktwirtschaft gibt es keinen gleichförmigen Verlauf, vielmehr wechseln Aufschwung und Abschwung einander regelmäßig ab. Die kurzen Wirtschaftszyklen mit einer Dauer von drei Jahren werden Kitchinzyklen genannt, die mittleren mit einer Dauer von 7-11 Jahren heißen Juglarzyklen. In der Marktwirtschaft treten aber auch lange Wellen mit einer Periode von 40-60 Jahren auf. Nach ihrem Entdecker Nikolai Kondratieff werden sie Kondratieffzyklen genannt. Auslöser dieser langen Wellen sind bahnbrechende Erfindungen, die im Folgenden Basisinnovationen genannt werden.
Die bisherigen Kondratieffzyklen
Seit dem späten 18. Jahrhundert konnten fünf Kondratieffzyklen empirisch nachgewiesen werden (Abb. 1). Der erste Langzyklus wurde durch die Erfindung der Dampfmaschine und grundlegende Innovationen in der Textilindustrie ausgelöst (Schnellschützen-Handwebstuhl, Mule-Spinnmaschine, Spinning-Jenny). Eisenbahn und Bessemer Birne führten die Wirtschaft in den zweiten Kondratieff. Es war die große Zeit des Stahls.
Der dritte Kondratieff war der erste Langzyklus, der von der praktischen Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse getragen wurde. Die Entdeckung des Elektrodynamo-Prinzip durch Werner von Siemens erlaubte die Umwandlung mechanischer Energie in elektrische, und die Erkenntnisse des Aufbaus der Materie durch die Quantenphysik schuf das Wissen, um Stoffe manipulieren zu können – die Grundlage der modernen Chemie.
Der dritte Kondratieff ging mit der Weltwirtschaftskrise der 1920er/1930er Jahre zu Ende. Der neue Aufschwung, der vierte Kondratieff, kam mit dem Auto und der Petrochemie. Er markierte den Höhepunkt der Industriegesellschaft und brachte den Massenverkehr auf der Straße und in der Luft. Der vierte Kondratieff ging mit den massiven Ölpreiserhöhungen der OPEC in den späten 1970er Jahren zu Ende.
In den frühen 1950er Jahren begann der fünfte Kondratieff. Seine Antriebs-energie kam aus der computerbasierten Informationstechnik. Mit ständig zunehmender Geschwindigkeit durchdrang die Informationstechnik alle Bereiche der Gesellschaft und verwandelte die Welt informationell in ein Dorf. Mit dem fünften Kondratieff ging die Industrie-Gesellschaft in die Informations-Gesellschaft über. Wirtschaftswachstum definiert sich seither vor allem als Wachstum des Informationssektors.
Der fünfte Kondratieff ging um die Jahrhundertwende zu Ende. Parallel zu seinem Auslauf hat der sechste Kondratieffzyklus begonnen. Träger des neuen Kondratieffzyklus wird Gesundheit in ganzheitlichen Sinn sein.
Abb. 1: Die langen Wellen der Konjunktur
Quelle: Nefiodow, Leo und Nefiodow, Simone: Der sechste Kondratieff, 2014.
Der sechste Kondratieff
Auf den ersten Blick mag diese Aussage überraschen. Können die Ausgaben für Gesundheit, die betriebswirtschaftlich ja als bloße Kosten, als etwas Negatives eingestuft werden und die man deshalb möglichst vermeiden will, in Zukunft die Rolle einer Lokomotive für Wachstum und Beschäftigung übernehmen?
Hier muss an die Ergebnisse der modernen Wachstumstheorie erinnert werden. Die wichtigsten Quellen für Wirtschaftswachstum sind nur vordergründig Maschinen, Kapital oder Arbeitsplätze. Die wichtigste Quelle für Wirtschaftswachstum sind Produktivitätsfortschritte. Der sechste Kondratieff wird von einer verbesserten Produktivität im Umgang mit Gesundheit getragen (eine ausführlichere Darstellung des sechsten Kondratieffs befindet sich in dieser Homepage).
Die Kondratieffzyklen aus historischer Sicht
Mit Kondratieffzyklen beschäftigen sich hauptsächlich Ökonomen, aber auch Vertreter anderer Disziplinen: Gesellschaftswissenschaftler, Naturwissenschaftler, Technologen, Psychologen. Zwei amerikanische Historiker – George Modelski und William Thompson – sind der Frage nachgegangen, wie der Aufstieg von Großmächten erklärt werden kann. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass die wichtigste Voraussetzung für die Entstehung einer Großmacht die führende Beherrschung eines Kondratieffzyklus ist (Tab. 1).
Tab. 1: Zusammenhang zwischen Kondratieffzyklen und Großmächten
Quelle: In Anlehnung an George Modelski and William R. Thompson. Leading sectors and world powers: The coevolution of global politics and economics. 1996.
Die Begründung ist nachvollziehbar: Wer die Basisinnovation eines Kondratieffzyklus führend beherrscht, baut die leistungsfähigste Wirtschaft auf; wer die leistungsfähigste Wirtschaft besitzt kann die größten Armeen und Flotten und die modernsten Waffen finanzieren; wer die modernsten Waffen und die schlagkräftigsten Armeen und Flotten besitzt kann anderen Ländern seinen Willen aufzwingen und wird früher oder später eine politischen Großmacht.
Dieser Zusammenhang lässt sich am Beispiel Großbritanniens gut erkennen. Zwischen 1300-1800 herrschte in dem Land praktisch Stagnation, das Pro-Kopf-Einkommen wuchs nur um 0,2 Prozent pro Jahr. Von 1800-1900 baut das Land mit den ersten beiden Kondratieffzyklen die leistungsfähigste Wirtschaft der Welt auf und wird zur Großmacht des 19. Jahrhun-derts. Im Jahre 1880, auf dem Höhepunkt des zweiten Kondratieffs, kam fast ein Viertel der weltweiten Güterproduktion aus Großbritannien (Tab. 2).
Tab. 2: Anteile an der Weltindustrieproduktion in Prozent
Quelle: P. Bairoch: International Industrialization Levels from 1750 to 1980.
Aus Sicht der Ökonomen begann der erste Kondratieff im 18. Jahrhundert. Die amtliche Statistik – die wichtigste Datenquelle der Ökonomen – erlaubt es nicht, noch weiter in die Vergangenheit zurück zu gehen. Als Historiker sind Modelski und Thompson nicht an diese Einschränkung gebunden, sondern haben auf zusätzliche Daten zurückgegriffen. Dadurch konnten sie die Kondratieffzyklen bis in das 10. Jahrhundert zurückverfolgen. Basisinnovation des ersten Kondratieffs (K1) aus historischer Sicht war die Erfindung des Papiers und der Drucktechnik. Sie führte zum Aufstieg der nördlichen Sung-Dynastie zur Großmacht (Tab. 1).
Kondratieffzyklen können seit 1000 Jahren empirisch nachgewiesen werden. Wenn eine Regularität über einen so langen Zeitraum existiert, dann kann es Angesicht der vielen ökonomischen, technischen und sozialen Umwälzungen, die in diesem Zeitraum stattgefunden haben, wohl kaum ein Zufall sein.
Deshalb kann man davon ausgehen, dass die von Modelski und Thompson aufgezeigte Regularität weiter besteht. Ein neuer Kondratieffzyklus – in der Zählweise der Ökonomen ist es der sechste Kondratieff – hat in den späten 1990er Jahren begonnen. Nach dem Ende des fünften Kondratieffs ruhen nun die Hoffnungen auf diesen Langzyklus. In seiner frühen Phase besitzt er aber noch nicht die Stärke, um einen stabilen Aufschwung zu sichern. Dennoch wird er – wie auch die früheren Kondratieffzyklen – die Hauptrichtung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung in den nächsten Jahrzehnten zunehmend bestimmen. Die Herausforderung im frühen 21. Jahrhundert besteht darin, den sechsten Kondratieff zu identifizieren und konsequent zu nutzen. Die Unternehmen, Regionen und Ländern, denen dies gelingt, werden zu den Gewinnern gehören.